Die unbekannte Tote aus dem Isdal – Isdal-Frau
Die unbekannte Tote aus dem Isdal. Bekannt als Isdal-Frau. Finella Lorck. Claudia Tielt. Vera Jarle. Elisabeth Leenhouwer. Geneviève Lancier. Claudia Nielsen. Alexia Zarna-Merchez. Diese Namen haben eins gemein: Sie wurden von ein- und derselben Person genutzt. Unter all diesen Namen trat eine etwa 30jährige Frau auf, die im November 1970 im norwegischen Isdal, zu deutsch Eistal, bei Bergen tot aufgefunden wurde.
Wer die Frau wirklich ist und warum sie starb, ist bis heute nicht geklärt. Vieles spricht dafür, dass sie ermordet wurde.
Der Fund
Am 29.11.1970 ist ein Vater mit seinen beiden Töchtern im Isdal, einem einsamen norwegischen Gletschertal, unterwegs. Dort finden sie die Leiche einer Frau. Die Frau liegt auf dem Rücken. Große Teile der Vorderseite Körpers sind verbrannt. Die Rückseite ist nahezu unversehrt. Reste eines Lagerfeuers sind zu erkennen, daneben das Stahlgerüst eines Regenschirms, Fetzen eines grün-blau karierten Schals, Ohrclips, eine Uhr und ein Ring. Auch verbranntes Brot und eine Flasche Likör sowie Reste eines Gummistiefels und einer Socke werden gefunden.
Umgehend untersuchen Kriminaltechniker den Fundort. Unter dem Körper der Unbekannten finden sie einen Tropfen Benzin. Außerdem finden sie eine Schachtel Streichhölzer von Beate Uhse, verbranntes Papier, einen Metallring und eine verschmorte Passhülle. Auffallend: Aus sämtlichen Kleidungsstücken des Opfers wurden die Etiketten sorgfältig herausgetrennt.
Das Schließfach
Am Tag darauf wird ein Schließfach am Bahnhof Bergen geöffnet, da die Miete abgelaufen ist. Darin unter anderem: Zwei Koffer mit Kleidung ohne Etiketten. Zahnbürsten und Plastikflaschen, deren Markennamen mühsam abgekratzt wurden. Medikamente, auf deren Verpackungen einst der Name des verschreibenden Arztes sowie des Patienten standen – welche jedoch entfernt wurden. Drei Perücken. Eine Sonnenbrille, von der später ein Fingerabdruck genommen werden kann. Der Fingerabdruck der unbekannten Toten. Karten von Süd-Skandinavien und Norwegen. Außerdem deutsches, norwegisches, belgisches, schweizerisches und britisches Geld. Und: Eine Notiz mit einem Code aus Buchstaben und Zahlen. Eine vollständige Liste mit dem Inhalt der Koffer ist hier zu finden.
Die damaligen Ermittlungen
Von dem verbrannten Gesicht der Toten wird ein Abdruck genommen; anhand dieses Abdrucks wird ein Phantombild erstellt. Einige erkennen die Frau auf dem Bild, doch wer sie wirklich ist, weiß niemand.
Die Polizei geht verschiedenen Hinweisen nach. So fanden sie in den Koffern auch eine Plastiktüte des Schuhgeschäfts „Osc. Rørtvedt“ in Stavanger, ca. 200 Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt. Dort erinnert man sich an die Frau – sie sei elegant gewesen und habe Englisch mit einem starken Akzent gesprochen. Außerdem habe sie einen strengen Geruch ausgeströmt. Sie kaufte Gummistiefel der Marke Viking, Modell „Kjendis“. Genau das Modell, das bei der Leiche gefunden wurde. Doch weitere Hinweise erhält die Polizei hier nicht.
Auch im Hotel St. Svithun, dem heutigen Comfort Hotel, das in der Nähe des Schuhgeschäfts liegt, erinnert man sich an die Frau. Sie checkte dort unter dem Namen Finella Lorck ein, angeblich eine Belgierin. Und sie verhielt sich merkwürdig. Damals befanden sich die entsprechend beschrifteten Bäder auf dem Flur – die Unbekannte entfernte dort das „d“ und klebte es hinter die Nummer 615 an ihre Zimmertür. Sie räumte ihr Zimmer um und stellte den Stuhl auf den Flur. Welcher Sinn hinter all dem steckt, ist bis heute ungeklärt.
Da zu dieser Zeit jeder Hotelgast einen Meldezettel ausfüllen musste, sucht die Polizei in ganz Norwegen nach Finella Lorck. Finella finden sie nicht – dafür jede Menge anderer Damen, deren Beschreibung auf Finella Lorck passte. Als Claudia Tielt, Vera Jarle, Elisabeth Leenhouwer, Geneviève Lancier, Claudia Nielsen und Alexia Zarna-Merchez war sie 1970 in Bergen, Stavanger, Oslo, Trondheim, Paris und Genf unterwegs. Meist gab sie sich als Belgierin aus. Beruf und Zweck ihrer Reise gab sie dennoch fast immer auf Deutsch an. Mal war sie „Verziererin“, mal „Antiquitätenhändlerin“, mal „GeschäftTeilhaberin“. Zweck ihrer Reise war „Fremdenverkehr“, „Handelsverkehr“ oder „Berufverkehr“. Die Spuren führen ins Leere.
Auch die Notiz bringt die Ermittler nicht viel weiter. Zwar konnte ein Dechiffrier-Experte die Zahlen und Buchstaben entziffern – doch beinhalten diese lediglich die Information, zu welcher Zeit sie sich wo aufgehalten hatte. Die Zahlen geben die Tage an, die Buchstaben hinter den Zahlen den Monat und der einzelne Buchstabe am Schluss jeweils den Ort, an dem sie war. L steht für London, P für Paris, O für Oslo, G für Genf, S für Stavanger, R für Rom, B für Bergen. M steht für März, AL für April. Doch sehr weit wird diese Spur nicht verfolgt.
Die Autopsieergebnisse
Die Autopsie sorgt ebenfalls nicht für Klarheit. Am Nacken der Frau findet sich ein Bluterguss – er kann sowohl von der Handkante eines Menschen als auch von einem Sturz kommen. Im Blut und im Magen findet sich das Schlafmittel Fenemal – 50 bis 70 rosa Tabletten, eine große Menge. Da die Tabletten jedoch nicht vollständig verdaut waren, scheidet eine Überdosis als Todesursache aus. Die Unbekannte starb an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung. Etwa ein bis sechs Tage, bevor ihre Leiche gefunden wurde. Auch merkwürdig: Fenemal wird in Norwegen nicht in Form rosaner Tabletten verkauft – die Tabletten müssen aus Großbritannien stammen.
Das (vorläufige) Ende der Ermittlungen
Der Polizeichef gibt eine Pressekonferenz. Es bestehe kein Zweifel, dass sich die Frau selbst das Leben genommen habe. Die ermittelnden Beamten sind überrascht, erstaunt – und absolut nicht seiner Meinung. Sie vermuten dahinter einen Befehl von ganz oben. Möglicherweise vom Nachrichtendienst.
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Einer der erfolgreichsten Ermittler Bergens, Harald Osland, ist an den Ermittlungen beteiligt. Für ihn ist klar, dass nicht nur die Polizei ermittelte. Auch der militärische Nachrichtendienst war tatsächlich involviert, wie sich 2002 herausstellte.
In seinen Ermittlungen wird Harald Osland ausgebremst. So wollte er wegen der Beate Uhse Streichhölzer nach Flensburg, dem Firmensitz reisen. Es wird ihm verboten. Er wollte deutsche U-Boot-Offiziere vernehmen, die zur selben Zeit wie die Tote im Bergener Hotel wohnten. Er darf nicht. Er muss einen Abschlussbericht verfassen. Ohne Ergebnisse und ohne vollständige Ermittlungen.
Die Beisetzung
Am 5. Februar 1971 wird die Unbekannte beerdigt. Es ist eine katholische Bestattung auf dem Friedhof Møllendal in Bergen. Der katholische Gemeindepfarrer Franz Josef Fischedick leitet die Trauerfeier und führt die Beisetzung durch. 16 Männer und zwei Frauen sind anwesend, allesamt Mitarbeiter des Polizeipräsidiums Bergen. Es gibt keinen Grabstein. Niemand hätte gewusst, welche Inschrift der Grabstein hätte tragen sollen.
Die Ermittlungen seit 2016
Seit 2016 wird in dem Fall wieder ermittelt. Von der Toten existieren noch Ober- und Unterkiefer. Außerdem Proben von Leber, Niere und Milz. Ihre DNA konnte entschlüsselt werden, doch ohne Vergleichsmaterial ist selbst dieser kleine Erfolg nutzlos. Der Zahnschmelz der Unbekannten wurde analysiert. Hieran lässt sich ablesen, welches Wasser ein Mensch als Kind getrunken hat und welche Nahrung er zu sich nahm. Die chemischen Zusammensetzungen von Wasser und Nahrung lassen sich am Zahnschmelz durch eine sog. Isotopenanalyse ablesen. Und die chemischen Zusammensetzungen sind von Land zu Land, oft auch von Stadt zu Stadt, unterschiedlich. Ergebnis der Analyse: Im Alter von vier Jahren lebte die Tote mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Umgebung von Nürnberg. Als Heranwachsende kommen mehrere Gebiete in Betracht: Wales, Italien, Spanien und das deutsch-französisch-belgische Grenzgebiet.
Die Zähne der Toten bergen weitere Hinweise. Sie waren in einem schlechten Zustand. Abgesehen von der auffallend breiten Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen gibt es weitere individuelle Merkmale. Es wurden umfangreiche Zahnarbeiten mittels Amalgam und sehr viel Gold vorgenommen. Die Behandlungen waren aufwändig – die Frau kann nicht arm gewesen sein. Bei den vorhandenen Kronen handelt es sich um Ringdeckelkronen, vermutlich aus den sechziger Jahren. Solche Kronen wurden zu dieser Zeit in Polen, Südosteuropa, Buenos Aires, aber auch in Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten gefertigt.
Und dann gibt es da noch die C14-Methode. Aufgrund der zahlreichen Atomwaffentests zwischen 1955 und 1963 erhöhten sich die radioaktiven C14-Atome in der Atmosphäre zu jener Zeit drastisch, was sich ebenfalls in Knochen und Zähnen widerspiegelt. Anhand der C14-Konzentration in Zähnen oder Knochen kann bis auf 1,5 Jahre genau nachgewiesen werden, in welchem Jahr eine Person geboren wurde. Dies geht allerdings nur bei Menschen, deren Zähne sich 1955 im Wachstum befanden – also bei ab 1944 geborenen Personen. Das Ergebnis der C14-Methode bei der unbekannten Toten: Sie muss vor 1944 geboren worden sein.
Schriftexperten analysieren die Schrift der Unbekannten. Ergebnis: Das Schriftbild weist Eigenheiten de französischen, der belgischen und der luxemburgischen Schrift auf.
Der norwegische TV-Sender NRK lässt von einem amerikanischen Forensiker ein neues Phantombild erstellen. In England, Frankreich und Belgien wird über den Fall berichtet – ohne Ergebnisse.
Obwohl man inzwischen so viel über die Unbekannte weiß, gibt es unzählige offene Fragen. So hatte sie auf den Meldezetteln angegeben, dass die ausstellende Passbehörde ihres (gefälschten) Ausweises die „Brüssel Kreisleitung“ sei. Diese Behörde gab es nie. Allerdings gab es in Deutschland die Kreisleitungen der NSDAP. Und in der DDR – wo allerdings keine Pässe ausgestellt wurden. Und warum hatte die Tote so viele Identitäten? Woher das Geld für ihre vielen Reisen? Und: Warum war der norwegische Nachrichtendienst an ihr interessiert?
Die Antwort auf diese Frage könnte sein, dass sie eine wichtige Geheimagentin war. Möglich ist aber auch, dass sie nur unter Verfolgungswahn litt und deshalb so viele Identitäten hatte. Was allerdings nicht erklärt, woher sie das Geld hatte und warum sich der Nachrichtendienst für sie interessierte.
Viele weitere Fragen sind offen. Hatte sie das Benzin, das unter ihrem Körper gefunden wurde, selbst vergossen? Wenn ja, wo waren die Behälter, in denen sich das Benzin befand? Hatte sie die Schlaftabletten freiwillig genommen oder wurde sie dazu gezwungen? Tatsache ist, dass die Frau ausschließlich unter falschem Namen auftrat und sämtliche Spuren beseitigte, die auf ihre Identität hinweisen könnten. Dafür muss sie einen Grund gehabt haben.
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Geschrieben von Adrenalyn
Autorin. Rechtsanwältin. Apfel-affin. Katzennärrin. Nervtötend.Youtuber Rezo schlägt wieder zu und The Liar Tweets Tonight
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2 Comments
Sibylle
Ein sehr fundierter, interessanter Beitrag zu diesem unglaublich mysteriösem Fall!
Nils
Neue spur: laut einer Postkarte soll die Frau aus Meersburg am Bodensee sein…
Ich kannte den Fall nicht, heute steht was in der Lokalzeitung.